Dem Atem folgen
Von Oliver Baumgarten.
Juliane Lorenz (aka Juliane Maria Lorenz) war 19 und hatte zwei Dokumentarfilme geschnitten, als sie Rainer Werner Fassbinder traf. Sechs Jahre und 14 Filme dauerte ihre gemeinsame Arbeits- und Lebensbeziehung, bis Fassbinder 1982 starb. Als Editorin arbeitete sie zunächst weiter mit Regisseuren wie Romuald Karmakar, Oskar Roehler, vor allem aber Werner Schroeter, dessen gemeinsamer Film „Malina“ ihnen 1991 je einen Deutschen Filmpreis bescherte. Seit 1993 rücken zunehmend eigene Dokumentarfilme sowie ihr Wirken als Leiterin der Fassbinder Foundation in den Vordergrund, mit der sie u.a. hochwertige Restaurierungs- und Digitalisierungsprojekte durchführt. Oliver Baumgarten traf Juliane Lorenz zum Gespräch in Berlin.
Wie sind Sie mit Film in Berührung gekommen?
Es gibt zwei Menschen, die anfangs wichtig waren für meine filmische Prägung. Zum einen mein Stiefvater Dieter Lorenz, der sogenannte Kulturfilme gemacht, am Wochenende als Kinovorführer in Stuttgart gearbeitet und mich als Fünfjährige oft ins Kino mitgenommen hat. Ich saß dann etwas erhöht neben dem Projektor und schaute durch das kleine Projektionsfenster – und erblickte das Leben! Ich habe also alles gesehen, was in den frühen 1960er Jahren durch die Projektoren durchdonnerte – Jerry Cotton, Conny und Peter usw. Wir sind dann von Stuttgart nach Wiesbaden gezogen, wo Dieter Lorenz beruflich zur FSK und FBW ins Schloss Biebrich kam. Dort war übrigens auch der erste Sitz des Deutschen Instituts für Filmkunde (DIF). Nun kommt der zweite Einfluss für meine filmische Prägung ins Spiel: Eine Freundin meiner Mutter, Gudrun Lavies, nämlich war mit Hanns Wilhelm Lavies verheiratet, dem Gründer des DIF. Für mich ein schier unerreichbar scheinender, großer, sinnierender Herr, der Pfeife rauchte, über Jahre Film-, Foto- und Werbematerial des klassischen deutschen Films und des westdeutschen Nachkriegsfilms gesammelt hatte und eine „deutsche“ Cinématèque Français gründen wollte. Daraus wurde dann das DIF, in das er später seine Sammlung hineingab. Die Lavies haben mich als neugieriges junges Mädchen von etwa 12 Jahren kennen gelernt und mich mit der Film- und der bildenden Kunst in Berührung gebracht. Ich hab mich zudem auch quer durch deren riesige Hausbibliothek gelesen und fühlte mich damit immer besser als in der Schule. Vielleicht war es diese Beschäftigung mit der übergreifenden Kunst: der Literatur, der bildenden Kunst, dem Filmesehen und der Politik, die mich früh zur Überzeugung gebracht hat: Ich möchte selbständig sein und mein Leben selbst bestimmen. Mein Idealismus, das Filmeschauen und die Lavies – so fing es an.
Daraus erwuchs der Wunsch, kreativ zu arbeiten?
Genau. Meine Mutter ließ sich scheiden, als ich etwa 15 Jahre alt war, und wir zogen von Wiesbaden nach Bad Wörishofen ins Allgäu, weil Hanns Wilhelm Lavies als Archivleiter des Hessischen Rundfunks in Frankfurt pensioniert wurde, und Frau Lavies meine Mutter überzeugte, dass wir auch dorthin ziehen sollten. So blieb ich mit den Lavies in Verbindung. Meine Mutter hat dann beschlossen, bei den Bavaria Studios im entfernteren München zu arbeiten und wohnte dort dann auch die Woche über. So blieb ich bei meinen Geschwistern und kümmerte mich als Älteste neben der Schule, dem Haushalt, dem vielen Lesen und Lernen auch um meine Träume. Ich hatte also bereits damals schon viel Verantwortung – das gehört bis heute zu meinen Grundprägungen.
Dazu kam, dass ich viel über die revolutionären Gedanken der 68er las und über Kunst. Und ich mir bald mein erstes Bild kaufte. Mehr und mehr hatte ich den Wunsch, mich über das Filmemachen oder über das Schreiben auszudrücken. Meine Mutter hat das sehr gefördert: Meine Schwester ist bildende Künstlerin, mein Bruder hat als Kameramann angefangen und arbeitet heute bei ARRI in der Kamerawerkstatt – wir haben uns also alle kreativ entwickelt.
Stimmt es, dass Sie Fassbinder ein halbes Jahr, bevor Sie mit ihm arbeiteten, zufällig getroffen haben?
Ja, es war eine Begegnung, bei der er mich aber nicht wahrgenommen haben kann. Das war 1975 in einem chinesischen Restaurant in der Münchener Tengstraße, und alle tuschelten: „Des is der Fassbinder!“ Er war in einer für ihn so typischen bedrängenden Situation, saß an einem Tisch, die Arme verschränkt, hinter ihm die Wand und vor ihm irgendjemand, der auf ihn einredete – vermutlich war’s Michael Fengler, der damals noch einige Filme mit ihm produzierte. Seltsamerweise war er mir durch diese Situation, die ich dort wahrnahm, sofort ans Herz gewachsen. Das war jedenfalls meine erste Begegnung mit dem Neuen Deutschen Film, von dem ich damals nicht so viel wusste.
Aber da waren Sie noch nicht als Editorin tätig?
Na ja, nach meiner mittleren Reife hatte meine Mutter bei der Bavaria als Synchroncutterin angefangen. Sie war Anfang 40 und hat die Leute dort von sich und ihrem Wunsch überzeugen können, Sprach-Editorin zu werden. Als sich in meinem Kopf die Idee gefestigt hatte, Filme zu machen, entschied ich mit 17, beim Geyer Kopierwerk in München anzufangen. Lichtbestimmerin sollte ich nach der Vorstellung des damaligen Kopierwerkleiters werden und ging deshalb auch durch alle Abteilungen. Aber ich war zu ungeduldig und wollte weiter. Also bewarb ich mich bei der Bavaria und kam tatsächlich als zweite Assistentin zu Margot von Schlieffen…
…die u.a. Willi Forsts „Im weißen Rößl“ und Orffs „Carmina Burana“ gemacht hat.
Margot von Schlieffen war eine der großen Schnittmeisterinnen der 1950er bis hinein in die 70er Jahre. Eine sehr feine Dame, die als höhere Tochter aus dem Bildungsbürgertum in den 1930er Jahren die einzige Möglichkeit, etwas Künstlerisch-Praktisches beim Film zu machen, beim Schopfe packte und in Babelsberg anfänglich als Script-Girl arbeitete und dann den Beruf der „Schnittmeisterin“ – wie es damals noch hieß – erlernte. Anfang der 1950er kam sie zur Bavaria: ob es Sketche von Hans Liesendahl waren oder die Kinofilme von Michael Pfleghar – sie hat alles auf den Tisch bekommen. Bei Frau von Schlieffen jedenfalls merkte ich sofort, welch unglaublich hierarchischer Beruf das in einem solchen Studio wie der Bavaria sein konnte. Erst ist man ewig Zweite Assistentin und kocht erstmal Kaffee, und dann, wenn du viel Glück hast, bekommst du irgendwann die Chance, vielleicht Erste Assistentin zu werden, bevor du vielleicht mal Schnittmeisterin wirst. Ich wollte das aber sofort sein, ich wollte ans Material ran, ich wollte wissen: Wie macht man Filme?
Das erste 16mm-Material, mit dem ich es zu tun bekam, waren Sketche von Dieter Hallervorden. Glücklicher Weise hatte ich eine sehr gute Erste Assistentin, die meinen Drang sehr unterstützte, einfach was selber zu machen – das machte ihr nämlich auch weniger Arbeit. Und so durfte ich von Beginn an auch ihre Aufgaben erledigen, was wiederum Frau von Schlieffen nicht erfahren durfte: Aber so konnte ich extrem schnell lernen. Manchmal habe ich mir sogar erlaubt, hinter den Vorhang zu schauen, hinter dem Frau von Schlieffen saß und schnitt. Sie pflegte sich dann umzudrehen und zu fragen: „Haben Sie nichts zu tun?“ Ich habe erst später verstanden, wie furchtbar das ist, wenn jemand hinter dir steht, während du schneidest. Dabei wollte ich doch bloß wissen, was sie da macht!
Als es nicht voran ging, haben Sie die Bavaria wieder verlassen?
Ja, nach einem halben Jahr und traf bei der Tellux-Film in München Ernst Batta – mein erster Regisseur! Ich schmiss mich da einfach rein in die Arbeit und lernte vom Machen. Danach habe ich durch Zufall Ila von Hasperg kennengelernt, sie war damals die Editorin von Daniel Schmid und Werner Schroeter und saß gerade an einem Film von Michael Fengler. Ich kam über Vermittlung meiner Mutter zu ihr, weil sie eine Assistentin suchte. Mit ihr verstand ich mich sehr gut. Endlich durfte ich alles machen, denn sie ließ mich. Als sie sich dann aus dem Film zurückzog, weil sie mit dem Regisseur Fengler nicht zurecht kam, schloss ich mich ihr solidarisch an und ging auch. „Ach“, sagte sie, „das ist ja toll, ich mache nämlich den nächsten Film mit Mary.“ Wer ist Mary? „Das ist der Rainer“, sagte sie. Von „Rainer“ oder „Mary“ war eh immer viel die Rede. Der Film, den Ila mit ihm machen sollte, war „Chinesisches Roulette“, und ich sollte ihr assistieren.
Wie war denn Ihr erster Eindruck von ihm?
Er war 29, als ich ihn traf und hatte schon über 30 Filme gemacht. Rainer war ein entzückender, liebenswerter Charmeur und fand so ein junges Mädchen irgendwie ganz spannend, das auch mal sagte: „Das finde ich aber ganz schlecht jetzt“. Ich hatte großen Respekt vor ihm, weil ja jeder sagte: „Um Gottes Willen, das arme Kind!“ Aber er schloss mich offenbar in sein Herz.
Bei der ersten Begegnung kam er in den Schneideraum, als der Film abgedreht war, zum Ausmustern, aber auch, um den bereits fertigen Schnitt zu schauen. Er sah sich das an, sagte „schön“ und ging wieder. Beim nächsten Mal, als er kam, war der Film dann fertig. Das war bei ihm Grundbedingung: Der Editor war sein Partner, der den Film selbständig zu gestalten hat. Schließlich bereitete er einem das zu schneidende Material ziemlich gut vor. Schon seine Drehbücher waren äußerst präzise geschrieben. Das Drehbuch war für ihn auch eine Anleitung für alle Gewerke, die bei einem Film zusammen wirken müssen.
Und plötzlich, gerade 20, standen Sie mitten in diesem kreativen Universum...
Es war die große Zeit der Bavaria, in der Billy Wilder „Fedora“ drehte, Ingmar Bergman „Das Schlangenei“, Taylor/Burton haben dort gedreht – ich bin mitten in den Heiligen Gral geraten: Filmemachen war für mich wie ein heiliger Akt damals. Ich fühlte mich unglaublich privilegiert, an einem solchen Ort mitwirken zu können; vor allem in dem kleinen Schneideraum, wo wir die Fassbinder-Filme schnitten. Ich habe das alles aufgesogen. Dazu las ich, was mir in die Hände fiel und ging abends noch in die Vorlesung meines Politikstudiums, das ich zusätzlich angefangen hatte. Und eines Tages fragte mich dann Herr Fassbinder, ob ich nicht mitkommen wolle zum Mittagessen – und so nahm es seinen Lauf: Mit „Bolwieser“ kam der nächste Film, eigentlich ein Zweiteiler, bei dem ich Ila von Hasperg assistierte und dann die Kinofassung mit Rainer direkt zusammen montierte: Das hieß, er entwickelte aus dem TV-Zweiteiler von jeweils 90 Minuten eine Kinofassung mit einer Länge von ca. zwei Stunden. Und während er den teilweise neuen Verlauf von Szenen angedacht hatte und diese dann am Schneidetisch direkt mit mir als Assistentin und Mit-Editorin „montierte“, habe ich zum ersten Mal verstanden, wie man mit dem selben Material, das für einen zweiteiligen Fernsehfilm gedreht worden war, plötzlich eine neue Geschichte erzählen kann. Er bestand darauf, dass ich mich auch einbringe: „Setz Dich hin, mach!“, war die Ansage.
Der Kinofilm „Bolwieser“, den wir als Arbeitstitel „Die Ehe der Frau Bolwieser“ nannten, wurde zu dem, was am besten der USA-Titel wiedergab: „The Stationmaster’s Wife“. Der Fokus der knapp zweistündigen Kino-Erzählung lag auf der Hauptdarstellerin Elisabeth Trissenaar, die Hanni Bolwieser spielte, während der zweiteilige Fernsehfilm viel mehr ausgeholt und die Geschichte des Herrn Bolwieser genauer erzählt hatte.
Ich glaube, wir haben das in einer Woche umgeschnitten. So autonom mit Material umgehen zu können, das hat mich unglaublich fasziniert. Und es hat ihn null interessiert, ob ich nun 20 Jahre alt und unerfahren war: „Mach!“, hat er gesagt.
Haben Sie da keinen Druck, keine große Verantwortung gespürt?
Nein, das ist ja das besondere: Ich war komplett angstfrei, ich war mir der Verantwortung überhaupt nicht bewusst. Ihm hat einfach gefallen, dass ich mich traute. Und es ging stets Film auf Film weiter. Zwischendurch etwa habe ich noch Christian Hohoffs „Spiel der Verlierer“ montiert, den Rainer produzierte. Und als die erste Fassung drei Stunden lang war, sagte er: „Schätzchen, das geht nicht, dass du einfach machst, was der Regisseur sagt. Du musst ihm helfen! Der Junge hat ein tolles Drehbuch geschrieben und Du bist die Editorin. Du musst ihm helfen, wieder dieses Drehbuch zu finden.“ Es war die Zeit, als ich zum ersten Mal in Kontakt kam mit dem Gedanken, vielleicht Verantwortung haben zu können. Denn während dessen drehte Rainer schon „Die Ehe der Maria Braun“, ein was die Produktionsumstände betrifft schlimmer Dreh für ihn. Für mich brach dadurch plötzlich eine ganz andere Art von Ernsthaftigkeit in das Filmemachen ein, das ich bisher so idealisierte. Er, das große Genie, war zwischenzeitlich geradezu hilflos, das alles hat ihn überwältigt, und er bat mich plötzlich, ihn stets zu begleiten. Und ich merkte dabei auch, dass er offensichtlich funktionierende Grundstrukturen brauchte, um überhaupt in der ihm eigenen Konzentration und dem üblichen Tempo arbeiten zu können.
Warum nimmt „Die Ehe der Maria Braun“ in Ihrer professionellen Entwicklung einen so wichtigen Stellenwert ein?
Ich hatte für den Film, wie eigentlich üblich, wahnsinnig wenig Zeit. Und da gibt es eine Szene, in der Schygulla und Löwitsch sich im Gefängnis gegenüber sitzen, die Rainer in verschiedenen Einstellungsgrößen mehrfach komplett durchgedreht hat: Kamerapositionen von oben, von hinten, von vorne, Totale, Halbtotale, halbnah, nah immer den gesamten Dialog der beiden, die Aktionen der Gefängnisbesucher, die noch in der Szene vorkommen, immer von beiden Seiten des Trennungsgitters zum Gefangenen gedreht. Und er wusste anschließend – drei oder vier Tage später also – ganz exakt, welche Momente er aus welchen Einstellungen haben wollte, weil er ein gutes Gedächtnis hatte. Er rief mich an dem Tag, als ich diese Szene dann schnitt, vom Drehort an und ratterte am Telefon runter, welche Sätze er aus welchen Einstellungen haben wollte. Ich hatte mir nichts davon aufgeschrieben, signalisierte aber, alles verstanden zu haben. Und so setzte ich mich hin, eine Assistentin hatte ich nicht, und ging durch das unnummerierte Material. Natürlich hatte ich mir die Hälfte des Telefonats nicht gemerkt, war aber einfach zu stolz, ihn um Hilfe zu bitten.
Ich war wie ein Streber, es musste jedenfalls aus meiner Sicht alles perfekt sein. Er schaute sich sehr selten einzelne Szenen im Schneideraum an, bei dieser tat er es und sagte danach ganz ruhig: „Ich habe Dir doch gesagt, der Satz ist in der Nahen.“ Genau der eine Satz, den hatte er sich exakt gemerkt, der war ihm so wichtig, dass ich die gesamte Szene auf diese eine Naheinstellung hin umbauen musste. Das ist in diesem Ausmaß das einzige Mal vorgekommen, und ich habe ab diesem Moment den Hauch, den Atem seiner Filmarbeit begriffen. Es gibt Regisseure, die haben gar keinen solchen Atem, da sind es ausschließlich die Editoren, die ihn hervorbringen. Diesem Atem, den der Rainer besaß, bin ich gefolgt und zwar willentlich und voller Verzückung, weil ich ihn großartig fand.
Seinem Atem sind Sie gefolgt, in atemlosen Tempo sozusagen...
Es ging immer weiter, einen Film nach dem anderen. Aber ich hatte nie das Gefühl, wir würden hetzen. „Berlin Alexanderplatz“, da bin ich 23 geworden, war diesbezüglich meine Reifeprüfung, da habe ich neun Monate dran gesessen von morgens bis abends. Morgens kam das Material aus der Entwicklung, abends habe ich die geschnittene Szene gezeigt. Tag für Tag. Das macht mir niemand mehr nach. Aber für Rainer war das sowieso kein Problem, er sagte mal: „Wenn ich für eine Szene drei Stunden brauche, um sie zu inszenieren, warum brauchst Du länger zum Schneiden?“ Er hatte die Latte schon ganz schön hoch gelegt – für uns alle.
Andererseits passt es ja zu dem Tempo, mit dem Sie als junge Frau vorwärts strebten.
Auf jeden Fall, und es gab ja Leute, die mich bedauert haben, mit diesem schwierigen Menschen zu arbeiten – aber das hat mir Spaß gemacht! Allerdings habe ich dann im weiteren Verlauf in seinem Leben ja eine gewisse Rolle gespielt, und so habe ich zu all der Freude auch zunehmend Sorge empfunden. Aber wir ritten auf einer solchen Welle der Glückseligkeit. Wenn ich heute Fotos von damals sehe, erkenne ich es ja, wie schlecht es ihm manchmal ging. In dem Rausch des Lebens selbst, habe ich das aber nicht so wahrgenommen.
Erst bei „Querelle“ wurde mir das auch mal zuviel – ein Film nach dem anderen immer hintereinander zu drehen. Ich brauchte und wollte eine Pause, was ihn verletzt hat. Ich habe mal für zehn Tage unterbrochen, wollte ihm damit auch signalisieren, dass er, wenn er das Gefühl hat, er braucht jemand anderen, auch die Chance bekommt, darüber nachzudenken. Daraufhin haben wir erkannt: Wir können gar nicht mehr ohne einander. Hätten wir das damals nicht festgestellt, wäre ich nie die geworden, die ich heute bin. Es war so eine enge kreative und seelische Verbindung, und ich habe sie damals überprüfen können mit dem Ergebnis, ihn mit Herz und Seele geliebt zu haben. Wir waren ja die letzten Jahre Tag und Nacht zusammen. Und dann starb er.
Für Sie sicher nicht nur privat, sondern auch beruflich schwierig?
Absolut: Ich hatte außer mit Herrn Batta bisher nur Filme mit Rainer gemacht und kannte auch nur seine Art des Filmemachens, bei dem er die kreativen Gewerke als Partner begriff. Das war Magie, wie wir damals gearbeitet haben. Rainer war wie eine Maschine, die aus allen Kreativen um ihn herum die Fähigkeiten herauskitzelte. Und diese Fähigkeit habe ich für mich dann weiter behaupten wollen, was nach seinem Tod ein bisschen schwerer ging. Jeder sagte: Oh je, die Cutterin vom Fassbinder? Um Gottes Willen... Jeder dachte: Die bringt den mit! Das hat mal ein Regisseur ganz klar gesagt: „Bei Dir habe ich das Gefühl, der Fassbinder guckt zu – und da habe ich keinen Bock zu.“ Dazu kam nach 1982 der Fall des Neuen Deutschen Films. Ich aber wollte mich in dem Beruf auch ohne Fassbinder beweisen. Wenn nicht zwei Jahre später unser gemeinsamer Freund Werner Schroeter gekommen wäre und mich gefragt hätte, ob wir nicht mal zusammen arbeiten wollen, dann weiß ich nicht, wie sich meine Laufbahn weiter entwickelt hätte.
Das dürfte Ihrem Streben nach Weiterentwicklung gut gepasst haben, denn Schroeters Filme sind ja nun wirklich etwas komplett anderes!
Werner war keiner, der für den Schnitt alles genau durchgeplant hatte. Er hatte die Ruhe weg, das war ein ganz anderer Arbeitsrhythmus, der mich erstmal natürlich furchtbar nervte. Aber Werner hat alles mit einem großen Gleichmut über sich ergehen lassen. Unser erster Film war „Der Rosenkönig“, für den es so gut wie kein Geld gab, im Gegenteil habe ich jede Menge eigenes Geld reingesteckt, damit der Film fertig wurde. Aber dass man Film so herrlich gestalten kann, und die Musik, die Werner aussuchte und ich dann benutzte – das war wie Himmel auf Erden. Die erste Rolle haben wir zusammen am Schneidetisch montiert, dann habe ich ihn gebeten, doch bitte zu gehen. „Das hat mir ja noch keiner gesagt“, meinte er darauf, ging aber und ließ mich machen. Er wollte anfangs auch, dass ich beim Drehen dabei bin, aber das mache ich nicht. Ich will nicht in die Entstehung involviert sein, denn ich brauche meine eigene Fantasie, um mit dem umzugehen, was da ist. Und nun ist so ein Schroeter-Film ja ein sehr viel komplexeres Gebilde als ein klar strukturierter Fassbinder-Spielfilm. Der Zufall interessierte Rainer nicht. Der Zufall interessierte auch Werner nicht, aber er bot viele spannende Momente und Möglichkeiten, nicht zuletzt durch dieses tolle Kameraauge von Elfi Mikesch. Ich habe in diesen Filmen alles dürfen, was ich wollte, habe die Geschichte erzählt und sie geformt. Und wenn Werner und Elfi, wie bei „Malina“, in Rausch kamen, dann lagen da eben 60.000 Meter Material auf dem Tisch und nicht wie beim Fassbinder 20.000. „Malina“ war bei der Premiere im Januar 1991 wie ein letztes Aufbäumen des Neuen Deutschen Films, wir waren alle sehr stolz auf die fünf Bundesfilmpreise.
Aber vor der Zusammenarbeit mit Schroeter haben Sie sich ja auch noch anderweitig ausprobieren können…
Regina Ziegler hatte mich kurz nach Rainers Tod gebeten, „Liebe ist kein Argument“ von Marianne Lüdcke umzuschneiden. Regina hatte sich damals wirklich sehr um mich gekümmert, das war entzückend. Und ich habe ihr das zugesagt, weil Lüdckes erster Spielfilm narrativ nicht funktionierte, und ich gerade am Erzählen so viel Lust verspürte. Die eigentliche Editorin war natürlich nicht sehr glücklich, dass man ihr den Film wegnahm, aber Marianne Lüdcke hatte die ganze Zeit hinter ihr gesessen, und da verlierst du als Editor einfach das Gefühl für einen Film, weil man sich vom Regisseur einwickeln lässt. Klar will man sich lieb haben, aber nein: Kunst ist knallhart! Jedenfalls habe ich mich dann sechs Wochen mit dem Film eingeschlossen und habe ihr einen neuen Film geboten – und zwar mit allem drum und dran. Ich habe auch die Musik neu gestaltet, habe einen Ton der Komposition von dem Filmkomponisten Günter Fischer, der ein großer Star in der DDR war, genommen und daraus etwas Neues zusammengeschnitten und als Hauptmotiv benutzt. Dieses Erfinden, Gestalten, Ausprobieren, diesen Mut hatte ich durch Rainer gefunden und nun erstmals auch anderweitig zeigen können.
Nach Ihrem letzten Schroeter-Film „Deux“ montierten Sie Oskar Roehlers „Agnes und seine Brüder“. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Oskar Roehler kannte ich schon über Christoph Schlingensief, die ja eine Zeit lang als Autorenteam fungierten. Seinen „Silvester Countdown“ fand ich sehr gut und habe dann seine Arbeiten weiter verfolgt. Er fragte mich, ob ich „Die Unberührbare“ schneiden wolle, da hatte ich aber gerade mit der Fassbinder Foundation angefangen und wollte das nicht. Später plante er, „In einem Jahr mit 13 Monden“ neu zu interpretieren, hat sich dann aber auf mein Anraten hin nur einiger Motive bedient und stattdessen einen eigenen Film daraus geformt, eben „Agnes und seine Brüder“. Den habe ich geschnitten, basierend auf einem Deal: „Du bleibst draußen, und ich lerne Avid.“ Und das habe ich dann gemacht – auch wenn mir eine Assistentin mit der Technik zur Hand gegangen ist. Ich habe ein Problem mit dieser Digitaltechnik, sie nimmt mir die ganze Kraft, kreativ zu sein. Ich bin einfach nicht auf sie eingetuned. Die Angst, zum Techniker zu werden, nicht frei kreieren zu können, war für mich das größte Problem. Trotzdem: Für Oskar habe ich das gemacht. Und so hatte er erst einmal sechs Wochen Pause, ich habe geschnitten, und dann bekam er eine Vorführung – großes Kino. Das war mir schon immer wichtig, dass sich der Regisseur von seinem Film lösen kann, dann ins Kino kommt und seinen Film wiedererkennt.
Sie haben als erste Editorin in Deutschland sich im Abspann unter „Montage“ führen lassen. Wie kam es dazu?
Nach der Zusammenarbeit mit Rainer hatte ich damit angefangen, um an Pudovkin anzuknüpfen und seinem Prinzip der „Konstruktiven Montage“. Montage ist doch der grundlegende Begriff unserer Arbeit – gemeinsam mit dem englischen „editor“: Ein Redakteur, der „editor“, ist ja auch ein „createur“, er erzählt mithilfe der Journalisten Geschichten. Das textliche Grundmaterial eines Redakteurs entspricht beim Film dem gedrehten Material. Den Roten Faden darin zu finden, das Material also richtig zu erzählen, das ist die Arbeit des Monteurs, des Editoren. Schon das Wort „Schnitt“ oder „Cut“: kaputtmachen, wegschneiden, Lust weg, alles weg – ein irgendwie sehr deutsches Wort. Das Problem ist nun: Ich mache Montage, aber wie heiße ich denn? Montagemeisterin? Monteuse du film? Gegen das Wort „Cutter“ jedenfalls habe ich mich immer gewehrt.
Die meisten Ihrer Regisseure gelten als starke Persönlichkeiten – ein Zufall?
Ich bin in eine Generation hineingerutscht mit Menschen, die wirklich ihr Leben für einen Film gegeben haben. Ich habe das sehr bewundert und ja, ich bin sicher auch verwöhnt. Ich habe ein gewisses Niveau erreichen dürfen durch diese extrem tollen Regisseure, und allein schon mit diesen zwei, Rainer und Werner, gearbeitet zu haben, bedeutet enormes Glück, muss ich sagen. Mir war das aber auch wichtig: Ich wollte Meister haben. Meister in dem Sinne, dass eine Auseinandersetzung stattfindet, dass einem Herausforderungen geboten werden, dass Reibungen existieren. Das ist eigentlich die Grundessenz meines Lebens: Es ist wichtig, dieses Geschenk wahrzunehmen, etwas zu gestalten. Aber ich habe immer gezweifelt, ich war nie sicher. Jeden Film, den ich anfing, hielt ich für zu schwierig: „Ich kann nicht, ich schaffe das nicht!“ Fassbinder war nie unsicher, er konnte vielmehr auch mal zugeben, etwas nicht zu wissen.
Außer eigenen Arbeiten haben Sie seit zehn Jahren keinen Film mehr montiert. Empfinden Sie sich nicht mehr als Editorin?
Die Zeit, in der ich gerne Editorin war, ging bis etwa 1991. Bis dahin hatte ich an die 40 Filme geschnitten, Tag und Nacht. Ich war stolz auf alles, aber da gab es noch anderes, was ich erforschen wollte. Ich versuchte am Beginn, die Fassbinder Foundation parallel zu leiten, habe mich dann aber doch schnell voll darauf konzentriert und tue das bis heute. Es kommen ab und an noch junge RegisseurInnen, die mich zur Montage ihrer Filme überreden wollen, aber ich denke, die Zeiten sind vorbei. Ich habe auch nicht mehr die Nerven für die Auseinandersetzungen.
Ich schneide liebend gerne, aber es macht mich kirre, dann noch ewig zu ändern. Auch das kommt wahrscheinlich aus der Zeit mit Rainer: Am geschnittenen Film haben wir nie lange rumgeändert. Abgeben, weiter! Ich mag mich niemandem mehr antun, ich muss meine eigenen Sachen machen.
Neben Ihren Dokumentarfilmen sind das ja auch die sehr hochwertigen Restaurierungen, gerade bereiten Sie Fassbinders WDR-Serie „Acht Stunden sind kein Tag“ vor...
Mich freut sehr, dass dieser Teil der Arbeit wahrgenommen wird, denn ich sehe meine Aufgabe weniger darin, Rainers Filme zu verwalten, sondern sie zu entfalten. Aber wenn Rainer nicht so viele Theaterstücke geschrieben hätte und wir 1992 nicht diese Wahnsinnsausstellung in Berlin gemacht hätten, die den Boom wieder lostrat, durch die seine Filme dann auch mal wieder im Fernsehen liefen, wäre die Foundation gar nicht mehr existent heute. Wir müssen hart kämpfen, auch wenn wir mittlerweile weltweit gut vernetzt sind. In Deutschland muss man generell noch besser verstehen lernen, dass der deutsche Film ein Kulturgut ist und dass dieses in Zeiten der Digitalisierung bedroht ist. Und da geht es nicht um 15.000 Euro, die man als Beigabe für die 2K-Abtastung bekommt, sondern es muss um ein gewisses Gleichgewicht zur aktuellen Filmproduktion gehen. Es gibt, ich weiß nicht, 60 Mio. Euro Filmförderung für neue Filme: Da braucht es meiner Meinung nach mindestens 30 Millionen für den Erhalt. Bei uns kostet die 4K-Abtastung von „Maria Braun“ – und da ist ARRI schon ans äußerste Limit für uns gegangen – 45.000 Euro. Da ist also noch eine Menge zu tun, allein hier in der Foundation: Es war eine Fabrik, die Rainer aufgebaut hat, und ich betreibe diese Fabrik nun im Erhalt sozusagen weiter.